„Mama, was rufen die alle so laut und warum weint da ein Mädchen?“ fragte mich unlängst meine 5-jährige Tochter Helena. Ihre Frage galt einer Situation auf dem Fernsehbildschirm, die eine größere Menschenmenge auf einer Demonstration zeigte. Genauer gesagt waren es sehr junge Menschen, deshalb war meine Tochter wohl überhaupt erst aufmerksam geworden. Es handelte sich um Schülerinnen und Schüler in den USA, die aus Protest gegen den weit verbreiteten Waffenbesitz in ihrem Land protestierten. Denn wieder einmal war ein Amokläufer in eine Schule eingedrungen und hatte dort unter der Schülerschaft ein Blutbad angerichtet, dem zahlreiche Jugendliche zum Opfer gefallen waren. „Die haben sich alle getroffen und sich zusammen Sprüche ausgedacht, die sie nun gemeinsam rufen. Sie wollen, dass nicht mehr jeder Mensch in ihrem Land einfach eine gefährliche Waffe kaufen darf.“ Helena merkte natürlich schnell, dass ich ihre Frage nur zur Hälfte beantwortet hatte und fragte nach: „Und das Mädchen? Warum weint das und warum umarmen sich so viele?“ Die einfachste Lösung wäre gewesen, zu sagen: „Das weiß ich auch nicht.“ Oder eine harmlose Erklärung zu liefern: „Vielleicht hat sie etwas verloren.“ Verloren hatte dieses junge Mädchen tatsächlich etwas, nämlich Freunde, die bei dem Amoklauf ums Leben gekommen waren. Und sie hatte noch mehr verloren, nämlich das Vertrauen in die Erwachsenenwelt. Aber sollte ich das meiner kleinen Tochter sagen? Dann müsste ich auch erklären, was ein Amoklauf überhaupt ist und ich müsste von getöteten Kindern und Jugendlichen erzählen. Vor allem aber fürchtete ich mich vor der Frage, die hundertprozentig kommen würde: „Mama, kann das bei mir im Kindergarten auch passieren?“ Wie weit muss man seinen Kindern gegenüber bei der Wahrheit bleiben, wie weit muss man auch mal schwindeln dürfen, um nicht unnötige Ängste zu schüren? Schwer zu beantworten.
Kinder schnappen mehr vom politischen Tagesgeschehen auf, als wir uns vorstellen. Die Nachrichten aus dem Autoradio schlüpfen ihnen ganz nebenbei ins Ohr, die Bilder aus den Nachrichtensendungen im Fernseher brennen sich auf der kindlichen Netzhaut ein, Fotos von der Titelseite der Zeitungen springen uns in jedem Supermarkt und an jedem Zeitungsständer an. Warum sitzen da so viele Menschen mit Schwimmwesten in einem einzigen Boot? Weshalb sind hier alle Häuser eingestürzt? Und wo wohnen die jetzt? Viele berechtigte Fragen, auf die man als Eltern eine Antwort finden muss.
Was muss ein Kind wissen?
Wieviel Realität verträgt ein Kind? Kann ich der kleinen Kinderseele zumuten, dass es überall auf der Welt Kriege gibt, bei denen Menschen hungern, leiden und sterben? Oder doch lieber die heile Welt erhalten, indem ich Fragen abwiegle oder nur ausweichend beantworte?
Hier die richtige Balance zu finden, ist schwer. Seinen Kindern alle schlechten Nachrichten vorzuenthalten und das Weltgeschehen zu verharmlosen, ist wohl der falsche Weg, denn Kinder beziehen ihre Informationen nicht ausschließlich von zu Hause, sondern auch von anderen Kindern, älteren Geschwistern, zufällig aufgeschnappten Bemerkungen usw. Hysterische Ängste zu schüren ist in Zeiten von Twitter, Facebook und Co. leichter denn je. Da erscheint es mir besser, meiner Tochter kindgerechte, ihrem Alter und ihrer Persönlichkeit entsprechende Antworten zu geben.
Nicht zu viel und nicht zu wenig erklären
Eine meiner Regeln lautet: Ich reagiere dann, wenn meine Tochter von sich aus aktiv nachfragt. Sie „vorsorglich“ auf Themen vorzubereiten, weil sie gerade in aller Munde sind, erscheint mir falsch. Kinder fragen nach, wenn sie etwas beschäftigt, wenn sie etwas nicht von selbst verstehen oder einordnen können – und erst dann ist es für sie von Bedeutung. Eine andere Regel lautet: Versuche nichts zu beschönigen, aber wecke keine unnötigen Ängste, sondern vermittle Hoffnung und Zuversicht, dass sich etwas ändern lässt. Im Fall des Amoklaufes habe ich meiner Tochter erzählt, dass Schulkinder gestorben sind und dass deshalb so viele Leute traurig und wütend sind. Aber ich habe auch erzählt, dass jetzt ganz viele Schülerinnen und Schüler etwas dagegen unternehmen, damit in ihrem Land nicht mehr jeder eine Waffe kaufen kann.
Leider lässt es sich nicht immer vermeiden, dass trotz Erklärungen Angst entsteht. Dann ist es wichtig, sich diese Ängste anzuhören, sie ernst zu nehmen und nicht klein zu reden. Es kann Kindern helfen, ihnen altersgerecht zu erklären, weshalb es zu bestimmten Situationen gekommen ist. „Diese Kinder sind mit ihren Eltern zu uns nach Deutschland gekommen, weil in ihrem Land alle Geschäfte kaputt sind und man nichts mehr einkaufen kann.“ Warum Schulen und Geschäfte zerstört waren, muss ich dagegen nicht erklären, religiöse oder politische Zusammenhänge wären für Helena viel zu abstrakt.
Ebenso wichtig: Zugeben, dass man als Erwachsener auch nicht alles versteht, was in der Welt passiert. Und deshalb auch nicht alles lösen kann. „Mama, kannst du nichts machen, damit der Krieg aufhört?“ muss man mit einem klaren Nein beantworten. Wenig hilfreich sind übrigens flapsige Redewendungen wie „Die schlagen sich so lange gegenseitig die Köpfe ein, bis keiner mehr lebt.“
Hingegen ist es völlig in Ordnung, zu sagen, dass man selbst erschrocken und traurig über ein schlimmes Ereignis ist. Wenn Erwachsene Mitgefühl zeigen, bestärkt dies Kinder, ihre eigenen Emotionen zuzulassen und sie offen zu äußern.