„Mama, warum läuft der Junge nicht, sondern wird herum geschoben? Der ist doch schon viel größer als ich!“ fragte meine vierjährige Tochter Luisa, als wir vor kurzem durch den Stadtpark spazierten. Dabei zeigte sie unübersehbar mit dem Finger auf einen etwa acht Jahre alten Jungen, der im Rollstuhl saß. Wie wohl vielen Eltern ging es auch mir: Es war mir auf der einen Seite unangenehm, dass meine Tochter den Jungen ungeniert und neugierig musterte, auf der anderen Seite konnte und wollte ich sie deshalb aber auch nicht zurechtweisen, denn sie hatte schließlich nur ihrem Wissensdrang nachgegeben. An meiner eigenen Unbeholfenheit, mit dieser Situation umzugehen merkte ich, wie weit wir noch von einer gelungenen Inklusion behinderter Menschen entfernt sind. Luisa hatte mit ihrer Bemerkung und ihrem Fingerzeig keinerlei Wertung vorgenommen, sondern einfach ihrer natürlichen Neugier freien Lauf gelassen. Ich aber war davon unangenehm berührt.
Warum aber war ich das? Weil der Umgang mit behinderten Menschen für viele von uns Erwachsenen und daher auch für mich noch längst keine Selbstverständlichkeit ist. Weil ich damit nicht selbstverständlich aufgewachsen bin. Als Kind kannte ich zwar ein etwa gleichaltriges behindertes Mädchen in der Nachbarschaft, aber sie war die ganze Woche über in einer speziellen Fördereinrichtung und kam nur am Wochenende nach Hause. Ich hatte keinerlei Kontakt zu ihr. Hier aber liegt für mich der Schlüssel für ein entspanntes Leben von Menschen ohne und Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung. Wer nie mit behinderten Menschen zusammen ist, wird immer nur ihre Andersartigkeit sehen. Anders als … ja, als was eigentlich? Wer setzt hier die Norm? In Luisas Kindergartengruppe ist ein Mädchen, das immer wieder von extremen Aggressionsschüben überfallen wird und dann wie von Sinnen schreit und um sich schlägt. Sie ist also anders, ohne dass wir sie gleich als behindert bezeichnen würden. Und was ist mit dem kleinen Jungen in derselben Gruppe, der bereits mit 5 Jahren lesen kann, sich seine eigenen Bücher mit in den Kindergarten bringt und lieber darin versinkt, als mit den anderen Kindern herumzutoben? Auch er ist offensichtlich anders. Aber auf eine weniger auffällige Art und deshalb stößt er wohl auf mehr Akzeptanz.
Anders und gleichzeitig besondersIch glaube, Inklusion kann nur gelingen, wenn wir aufhören, zu vergleichen und zu bewerten. Je selbstverständlicher Menschen mit Beeinträchtigung in unserem ganz normalen Alltag teilhaben, desto leichter wird uns das fallen. Und je früher dieses Zusammenleben stattfindet, desto besser gelingt es. Dies zeigen verschiedene Untersuchungen in Kindergärten und Schulen, die bereits auf Erfahrungen mit dem Thema Inklusion zurückblicken können. Je jünger die Kinder sind, desto vorurteilsfreier gehen sie miteinander um. Sie orientieren sich noch nicht am Leistungsgedanken. Ein Gleichaltriger, der zwar nicht selbst laufen, aber dafür besonders gut malen kann, wird eben auf Grund dieser Qualität geschätzt. Und das kleine Mädchen mit Down Syndrom, das nur wenige Worte beherrscht, aber immer guter Laune ist und mit seiner Fröhlichkeit alle ansteckt, wird auch von allen schwer vermisst, wenn es einmal krank ist. Anders zu sein heißt nämlich auch besonders zu sein. Und etwas Besonderes zu sein ist ja grundsätzlich nicht schlecht, würde ich meinen.
Wir können viel voneinander lernen
Durch das alltägliche Zusammentreffen in Kindergarten und Schule von Kindern mit und ohne Behinderung wächst die Toleranz füreinander und diese Eigenschaft geht auch mit zunehmendem Alter nicht verloren. Empathiefähigkeit und ein sensibleres Gespür für Emotionen werden ebenfalls in erhöhtem Maße erworben, denn die Kommunikation mit behinderten Menschen funktioniert oft unmittelbar auf der Gefühlsebene und durch Gestik und Mimik als auf der Sprachebene. Zu erleben, dass eigene Hilfsbereitschaft bei anderen zu Erfolgserlebnissen und glücklichen Gesichtern führen kann, prägt fürs Leben. Gemeinsam Spielen und Lernen bringt einander näher und öffnet den Blick füreinander. Kinder, die anderen Kindern geduldig etwas zeigen und erklären, stärken ihre eigenen kognitiven Fähigkeiten.
Will sagen: Inklusion in Kindergarten und Schule bedeutet keine einseitige Förderung von Kindern mit Beeinträchtigung, sondern ein Geben und Nehmen in beide Richtungen. Im Idealfall spielt die Unterscheidung in „behindert und nicht behindert“ einfach überhaupt keine Rolle mehr. Ich will nicht behaupten, dass der Weg dorthin leicht ist. Aber er ist möglich. Wir müssen nur alle wollen.